Auf dem Königsweg
Der nächste Tipp für eine Reise in der Zeit nach Corona: Wie wär’s mit Danzig an der polnischen Ostseeküste?
Von Günther Koch/Life-Magazin
Danzigs Wahrzeichen ist hinter der Touristenkogge das wuchtige Krantor an der Mottlau. Fotos: Koch
Danzig/Gdańsk – Auch ein schöner Titel: „Meereshauptstadt Polens“. Andere nennen sie „Perle der Ostsee“. Wir müssen erst noch herausfinden, was Gdańsk wirklich ist, denn wir sind – erneut lange vor Corona – zum ersten Mal hier. In Danzig.
Eine Ansicht von früher, wie Danzig einmal war. Die Markthalle ist eines der vielen historischen Gebäude, ...
Über 1000 Jahre Geschichte
Wir treffen Marian Kolba vor dem Hotel, nur einen Steinwurf weit von der Altstadt entfernt. Der Historiker zupft noch einmal seine am Kopf befestigte moderne Freisprechanlage zurecht: „Können Sie mich alle gut verstehen?“ Und schon geht’s los – durch über 1000 Jahre Geschichte. Sie spannt sich auch hier, an der Mündung der Weichsel, von der Antike bis zur Völkerwanderung. Von den slawischen Staaten bis zum Deutschen Orden. Von der Hanse bis zur Freien Stadt unter polnischer Oberhoheit. Von den Preußen über die deutschen Gewaltherrscher bis zu den Kommunisten. „Ja, hier ist viel passiert“, sagt Kolba. Weltgeschichte.
... zu denen in der Altstadt auch das Große Zeughaus zählt, das natürlich ebenfalls auf dem Wegweiser steht.
Erst das Regime, dann ein Imperium
Zum Beispiel 1939, als der deutsche Panzerkreuzer „Schleswig-Holstein“ am Morgen des 1. September das Feuer auf die Westerplatte eröffnet, die langgestreckte Halbinsel im Norden der Stadt, und damit den Zweiten Weltkrieg auslöst. Zum Beispiel 1980, als ein kleiner schnauzbärtiger Elektriker während eines Streiks über die Mauer der Lenin-Werft klettert und als Anführer der Gewerkschaft Solidarność „zuerst das polnische Regime und in dessen Folge das sowjetische Imperium zum Einsturz bringt“, wie es Katarzyna Tuszyńska in ihrem Marco-Polo-„Danzig“-Reiseführer formuliert: Lech Wałęsa.
Der Artushof befindet sich am Langen Markt. Das polnische Gdańsk ist nicht nur auf Postkarten wirklich malerisch.
Mittelalter-Achse ist erhalten geblieben
Diese Stadt, bestätigt auch Kolba, sei in der Tat eigentlich nicht mit normalen Maßstäben zu messen. „Gdańsk ist anders.“ Wir erleben es auf dem Königsweg, einer Art erhalten gebliebener Mittelalter-Achse. Da ist das Hohe Tor, früher zur Befestigung gehörend. Gleich dahinter schließt sich das Langgasser Vortor an, aus Peinkammer und Stockturm bestehend, einst Gefängnis mit innen immer noch vielen Zellen – und mit Hinrichtungsklotz. Nicht weit davon das Goldene Tor mit farbigem Stadtwappen, Skulpturen, die Frieden, Freiheit, Reichtum und Ruhm auf der einen, Eintracht, Gerechtigkeit, Frömmigkeit und Besonnenheit auf der anderen Seite symbolisieren. Dazu ein Spruch, in Stein gemeißelt: „In Eintracht wachsen kleine Staaten, in Streit gehen große nieder“ ...
Im Brunnen vor dem Artushof schwingt Meeresgott Neptun den Dreizack. Die Häuser sind teils wunderschön restauriert.
Wo der heilige Georg mit dem Drachen kämpft
In der Georgshalle kamen Schützen zusammen, Feste und sonstige Feierlichkeiten fanden statt, der Vorhang öffnete sich für Theater; auf der Spitze des kleinen Turms kämpft der heilige Georg nach wie vor mit dem Drachen. Wir erreichen die Langgasse, die wohl repräsentativste Straße der Rechtsstadt, wie dieses Viertel heißt. „Hier wohnten immer schon die einflussreichsten und wohlhabendsten Bürger der Stadt“, zählt der Historiker Banker, Bürgermeister, Kaufleute, Schiffseigner und Stadträte auf, zeigt auf vielfältig geschmückte Fassaden, die belegten, „dass diese Gasse Visitenkarte und Symbol für den Reichtum der Danziger war.“
Häuserfront an der Mottlau. Schriftsteller Günter Grass, Jahrgang 1927, ist in Danzig-Langfuhr geboren worden.
Zu jeder vollen Stunde klingen 37 Glocken
Wir gehen am Uphagen- und Ferberhaus vorbei, das letztere mit den Porträts römischer Kaiser und Inschriften versehen, darunter eine, die ganz schön provoziert: Pro invidia! Für den Neid! Löwenschloss und Schumannhaus liegen auf dem Weg. Fast schon monumental ragt das Rechtsstädtische Rathaus in die Höhe. Zu jeder vollen Stunde erklingt das Spiel von 37 Glocken unterschiedlicher Größe. Von der Plattform ist der Blick über Danzig eindrucksvoll. Der Lange Markt war schon früh Zentrum städtischen Lebens, ist es bis heute geblieben. Maler stellen ihre Werke aus, Fotografen ihre Bilder.
Enge Straßen wie die Frauengasse dienten schon oft als Filmkulisse. Maritimes gehört einfach zu einer Stadt an der Küste.
Am Neptunsbrunnen vor dem Artushof
Schön ist die Legende, die uns Kolba vom Neptunsbrunnen vor dem Artushof erzählt, in dem sich reiche Patrizier Danzigs nach dem Vorbild der Tafelrunde des Keltenkönigs Arthus trafen: Neptun hat demnach zur Entstehung des berühmten Danziger Goldwassers beigetragen. Weil es ihm nicht gefiel, dass Leute Münzen in den Brunnen warfen, habe der Meeresgott mit dem Dreizack ins Wasser geschlagen – „und die goldenen Münzen verwandelten sich in kleine Goldplättchen, die seitdem in unserem Goldwasser, einem Kräuterlikör, schwimmen“.
Auch moderne Elemente prägen längst die Speicherinsel. Polen ist touristisch nicht zuletzt in Danzig international.
Das schöne Mädchen aus dem Roman
Schade, dass wir nicht zu einer anderen Tageszeit vor dem Neuen Schöffenhaus mit der Danziger Diele stehen. Sonst hätte wir vielleicht sehen können, wie Hedwig aus dem Fenster schaut. Das schöne Fräulein ist die Hauptfigur eines Romans aus dem Jahr 1891, der die Geschichte eines Bürgermädchens erzählt, das vom Onkel in dem Haus eingesperrt worden ist. Am Goldenen Haus in unmittelbarer Nachbarschaft muss es barmherziger zugegangen sein, wovon Verse wie diese künden: „Liebst du die Tugend, wird sie dich glücklich machen, willst du sie verfolgen, wirst du niedergeworfen.“ Oder: „Wirke recht, fürchte niemand.“
Denkmäler verschiedenster Art finden sich in der Stadt. (Bernstein-)Handarbeit war und ist noch immer angesagt.
Wo Regenten Quartier bezogen haben
In den Königshäusern am Langen Markt haben Polens Regenten Quartier bezogen, wenn sie die Stadt besuchten. Als offizielle Residenz war eigentlich auch das mächtige Gebäude gedacht, das den Namen Grünes Tor trägt. Doch nur einmal soll sich eine königliche Braut dort aufgehalten haben, „wo heute“, so der Danzig-Kenner, „unser früherer Staatspräsident und Friedensnobelträger sein Büro hat“: Lech Wałęsa.
Goldgekrönt ist der Adler der Wappenvogel Polens. In Danzig lässt es sich auch stilvoll speisen.
„Es wäre historisch gewesen“
Um Tore ist Danzig wahrlich nicht verlegen. Sie sollen nicht nur stehen, sind im Sommer 2012 bei der Europameisterschaft im Fußball im eigenen Land und in der Ukraine sogar oft gefallen, als Danzig neben Breslau, Posen und Warschau Spielort in Polen gewesen ist. Die Deutschen haben sich damals ganz in der Nähe in Oliwa eingerichtet, nachdem sie 2011 im neuen Stadion von Danzig in einem Test-Länderspiel zur Vorbereitung auf das Turnier in letzter Sekunde gegen Polen noch 2:2 gespielt haben. „Es wäre historisch gewesen“, sagt der Historiker, „das erste Mal die Deutschen zu besiegen.“
Das Drei-Kreuze-Solidarność-Denkmal ist für gefallene Werftarbeiter, deren Gewerkschaftsführer Lech Wałęsa war.
Info Danzig I
Das polnische Gdańsk liegt im Norden von Polen an der gleichnamigen Bucht, wo die Weichsel in die Ostsee mündet. Rund 285 Kilometer sind es südöstlich bis zur Hauptstadt Warschau. Danzig, einst Stadt des Deutschen Ordens, danach Hansestadt und Freie Stadt, zugleich Zentrum der Kaschubei, zählt rund 470 000 Einwohner, hat unter polnischer, preußischer und deutscher Herrschaft eine komplexe Geschichte hinter sich, galt durch seine Lage über Jahrhunderte als Drehscheibe im Warenverkehr zwischen Nord-, Ost-, Mittel- und Westeuropa, bildet heute zusammen mit der Hafenstadt Gdingen und dem Seebad Sopot die sogenannte Dreistadt. In den 1980er-Jahren stand Danzig im Mittelpunkt der oppositionellen Bewegung rund um die Danziger Werft und die Gewerkschaft Solidarność unter Führung von Lech Wałęsa, der später sogar Staatspräsident geworden ist. Die Bewegung spielte eine wichtige Rolle zum Ende der kommunistischen Herrschaft im Land, beeinflusste im weiteren Verlauf den Fall der Berliner Mauer und die Auflösung der Sowjetunion.
Danzig ist ein wichtiger Werft- und Hafenstandort geblieben, in dem Moderne immer wieder auch auf Vergangenes trifft.
Info Danzig II
Der Flug dorthin dauert von Deutschland aus, etwa von Frankfurt/Main, ungefähr eine Stunde. Klimatisch liegt Danzig, dessen Name sich mit bekannteren Persönlichkeiten wie Philosoph Arthur Schopenhauer, Schriftsteller Günter Grass, Schauspieler Klaus Kinski, Solidarność-Führer Lech Wałęsa oder Politiker Donald Tusk verbinden lässt, in der gemäßigten Zone im Übergangsbereich zwischen ozeanischem und kontinentalem Klima mit kälteren Wintern und milderen Sommern. Wir waren im Hotel Mercure Gdańsk Stare Miasto (vier Sterne, 281 Zimmer, Altstadt-Nähe, www.accorhotels.com) untergebracht. An Restaurants können wir die Villa Uphagena (historisches Gebäude, etwas teurer, im Stadtteil Wrzeszcz, traditionelle und internationale Küche, www.villauphagena.pl) und das Gdańska (mittlere Preiskategorie, originell eingerichtet, auf die Stadt und ihre Geschichte bezogene, verzierte Wände, Altstadt, www.gdanska.pl) empfehlen. Spezialitäten der eher bodenständigen polnischen Küche sind neben Fisch und Meeresfrüchten hausgemachte Pierogi-Maultaschen etwa mit Fleisch-oder Sauerkrautfüllung oder das Nationalgericht Bigos als Sauerkrauteintopf mit Weisskohl, Pilzen, Fleisch und Wurst. Bier ist weit verbreitet, bekannte Marken sind Żywiec, Tyskie, Lech und Okocim. Information: Polnisches Fremdenverkehrsamt, Hohenzollerndamm 51, 14199 Berlin, Telefon 030-2100920, www.polen.travel/de.
Service Auto
Von Deutschland aus reist man mit dem Auto am besten über die Europastraße 28 über Szczecin, Koszalin und Slupsk an. Von Berlin sind es aber immerhin doch noch fast 500 Kilometer bis nach Danzig. Über die „Bernsteins Eins“-Route ist die Hafenstadt an der Ostsee auch autobahnmäßig ganz gut angebunden. In Orten darf in Polen 50, nachts 60, außerhalb 90, auf Kraftfahrstraßen 120 und auf Autobahnen, auf denen für bestimmte Abschnitte Maut verlangt wird, Tempo 140 gefahren werden. Die Promillegrenze liegt bei 0,2. Wer lieber die Bahn nutzen will: Mit dem Berlin-Gdynia-Express gibt es eine direkte Verbindung. Der Flughafen befindet sich zwar nur knapp unter 15 Kilometer westlich der Stadt, oft staubedingt sollte man dafür aber doch lieber 30 bis 40 Minuten einplanen.
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KoCom/Fotos: Günther Koch
18. Mai 2020