Der Atem des Everest
Im Himalaya (II) / Die Begegnung / Wo der Schnee wohnt / Sherpas, Gletscherhauch und die Achttausender
Von Günther Koch/Life-Magazin
Das erste Mal auf der Reise: Der Mount Everest, 8848 Meter hoch, zeigt sich in voller Pracht. Fotos: Reh/Privatarchiv
Solo Khumbu – Chukung Ri, 5546 Meter. Kala Patthar, 5675 Meter. Beide in der Khumbu-Region im Himalaya auf dem Weg zum Everest-Basiscamp. Bergwanderer und Bergsportler Heinrich Reh aus Wetter in Hessen kann sich noch gut erinnern: „Vom Gipfel des Kala Patthar hat man eine gute Aussicht auf die Westseite des Mount Everest, in die Nord- und Südwestwand sowie auf den Westgrat des mit 8848 Metern höchsten Berges der Erde.“
Zum Kloster Tengboche
Der Himalaya in Asien. Im altindischen Sanskrit namentlich abgeleitet von „hima“ für Schnee und „alaya“ für Ort oder Wohnsitz. Das höchste Gebirge der Erde. Zwischen dem indischen Subkontinent im Süden und dem Tibetischen Hochland im Norden gelegen. Allein zehn der vierzehn Berge der Erde, deren Gipfel mehr als 8000 Meter hoch sind, befinden sich hier. Wie es dazu gekommen ist, in den Himalaya zu reisen? „Es waren drei Freunde, die mich 1994 überredet haben, mit nach Nepal zu kommen“, erzählt Heinrich, den wir schon lange persönlich kennen. Ziel der 17-tägigen Wanderreise sei das 3870 Meter hoch gelegene Kloster Tengboche im Everest-Nationalpark gewesen. „Bevor wir das Kloster erreicht haben, sind wir nach Khumjung-Kunde aufgestiegen, der größten Siedlung im Everest-Gebiet.“ Langsam gehen, habe der Führer empfohlen. Pistare! Pistare! „Dann stehen wir auf einer Aussichtskanzel in 3933 Meter Höhe und feiern den Erfolg.“
In Nepals Hauptstadt Kathmandu. Kloster Tengboche liegt 3860 Meter hoch.
Für 30 Tage Lodge-Trekking
Die Sicht auf die vergletscherten Achttausender Lhotse und Mount Everest hätten neue Pläne geweckt, bei der nächsten Reise nach Nepal ins Everest-Basiscamp den höchsten Berg der Erde aus nächster Nähe zu sehen. Sieben Jahre dauert es. Dann, 2001, geht es für 30 Tage zum Lodge-Trekking am Mount Everest. Ein Anbieter für weltweite Bergreisen übernimmt die komplette Organisation. Neben dem Visa zur Einreise ist eine Trekking-Erlaubnis für den Everest-Nationalpark nötig. „Nepal gehört mit seinen 31 Millionen Einwohnern zu den 20 ärmsten Staaten der Welt“, sagt Heinrich. Eine der wichtigsten Einnahmequellen sei der Tourismus.
Unterwegs zum Everest-Basislager. Blick auf Kala Pattar mit Pumo Ri.
Bei Chomolungma, die Muttergöttin
Wie solche Reisen dann weiter ablaufen? Heinrich verweist auf seine Erlebnisse, auf Beschreibungen des Deutschen Alpenvereins, zitiert dessen Summit Club und Bergsteigerlegende Hans Kammerlander, gibt Eindrücke von Bergwanderinnen und Bergwanderern wieder, die sie auf der Internetseite „Warum Berge glücklich machen“ beschrieben haben. Zum Beispiel diese: „Am Ende der Himmelsleiter wartet Chomolungma, die Muttergöttin, wie die Sherpas den Everest nennen. Es geht aus fruchtbarem Tiefland durch ursprüngliche Dörfer, Urwald, Bauernland und über hohe Pässe hinauf zum ‚Dritten Pol‘. Bunte Gebetsfahnen und buddhistische Klöster weisen den Weg. Wir folgen der Anmarschroute der klassischen Expeditionen über die schönsten Panoramawege ins Basislager, besteigen den Kala Pattar und den Chukhung Ri. Die Menschen und die Kultur in Kombination mit der Landschaft und den hohen Bergen sind etwas Einzigartiges. Vor allem das Lachen der Kinder ist ganz gewaltig. Der Horizont bietet hier im Gegensatz zum Meer neben seiner Unendlichkeit viel Abwechslung, er zeigt immer wieder neue, höhere Berge und“, so die Beschreibungen, „atemberaubende Dimensionen.“
In der höchsten Lodge nahe des Basislagers. Blick auf den Mount Everest.
„Viele schauen, aber nur wenige sehen“
Ob man nach solchen Eindrücken in einer so gewaltigen Natur später als anderer Mensch zurückkommt? „Viele kommen, um zu schauen, aber nur wenige sehen", ordnet Heinrich diesen Ausspruch einem Sherpa zu, „emporsteigend aus dem Nährboden gesunden Menschenverstandes, um uns, einer Lotusblüte gleich, durch Klarheit und Einfachheit zu erfreuen und ein wenig nachdenklich zu stimmen“. Und genau diese geistige Klarheit und Einfachheit sei es, die den Fremden in Nepal anziehe, ihm ein Gefühl der Geborgenheit vermittle, liest man in den einzelnen Erinnerungen, die auch Heinrich kennt und nachvollziehen kann. In Nepal gehe man zurück in eine vergangene Zeit. Zurück zu den eigenen Wurzeln. Zurück zur Beschaulichkeit.
Khumbu-Eisbruch mit Mount Everest. Heinrich Reh im Everest-Basislager.
Darunter der gewaltige Khumbu-Eisbruch
Es ist Tag 22 der Tour. „Gletscherhauch macht sich bemerkbar“, hält Heinrich in seinem Tagebuch fest. „Wir wandern am Khumbu-Gletscher entlang zu unserer höchsten Übernachtung in Gorak Shep (5200 Meter), wo wir um 11:30 Uhr ankommen. Die Sonne scheint, keine Wolke am Himmel und absolute Windstille. Wir beschließen, noch heute den Kala Phattar zu besteigen, wandern nach kurzer Pause los. Um 13:40 Uhr stehen wir auf dem Gipfel und genießen vom ‚schwarzen Berg‘ die ‚weiße Aussicht‘. Vor uns liegt die Everest-Pyramide in scheinbar greifbarer Nähe. Darunter der gewaltige Khumbu-Eisbruch nicht weit über dem Basiscamp, dem Ziel für den nächsten Tag. Nicht nur die Höhe, auch der Anblick raubt einem, umringt von den höchsten Bergen der Welt, den Atem.“
Auf dem Weg zurück. Der Flughafen Lukla ist einer der gefährlichsten der Welt.
Die Höhe von über 5000 Metern ist spürbar
Wie es ist, zumindest näher an die „Todeszone“ zu gelangen, an den Höhenbereich über 7000 Metern, ab dem der menschliche Organismus nicht mehr regenerieren kann? „Unser viel zu schneller Abstieg vom Gipfel beschert mir für den Rest des Tages und die nächste Nacht leichte Kopfschmerzen, die aber am Morgen wieder weg sind. Die Höhe von über 5000 Metern ist spürbar. In dieser Nacht fallen die Temperaturen auf minus 27 Grad. Am nächsten Morgen um 7:45 Uhr starten wir bei noch minus 10 Grad Richtung Everest-Basiscamp.“ Mail vom 21. Oktober 2001 nach Hause: „Am Freitag, den 19. Oktober 2001, um 11:15 Uhr stand ich mit meinem Zimmerkollegen Andreas und unserem Guide im Basislager vom Mount Everest. Es war einfach unglaublich fantastisch – und wir sind tief beeindruckt! Mein Traum ist wahr geworden! Um 13:30 Uhr sind wir nach sechsstündigem Marsch zurück in der Lodge. Die Höhe macht sich wieder bemerkbar. Wir sind alle ziemlich geschafft aber überglücklich.“
Wieder unterwegs in Europa: Osttirol, Ötztaler Alpen, auf dem Similaun ...,
„Schon unterwegs macht das Ganze was mit dir!“
Wie man sich hinterher fühlt, wenn man es geschafft hat? Was man alles gedanklich mitnimmt von einer solchen Tour? „Schon unterwegs macht das Ganze was mit dir!“ Bereits am Tag 15 hat Heinrich festgehalten: „Ich überlege, ob ich mein Tagebuch noch weiterschreibe, da man die Eindrücke nicht mehr in Worte fassen kann. Das Panorama der Berge ist einfach gigantisch. Wir haben unglaubliches Glück mit dem Wetter. Sonnenschein, Windstille und eine wahnsinnige Fernsicht auf die höchsten Gipfel der Welt begleiten uns jeden Tag. Das Tagebuch hab‘ ich dann doch bis zum Ende der Reise weitergeschrieben, worüber ich heute sehr froh bin.“
... 3599 Meter hoch, einst eisüberzogen. Die Wildspitze ist Tirols höchster Berg.
Natur fordert manchmal auch Bereitschaft, Tour abzubrechen
Wie man nach der Rückkehr die Lebenswelt zu Hause sieht? Ob sich die Haltung gegenüber Natur und Umwelt ändert? Kolleginnen und Kollegen berichten, was auch Heinrich so oder ähnlich erfahren hat: „Irgendwann nach meinen ersten Wanderungen haben mich die Berge in ihren Bann gezogen“, lautet eine Bilanz. „Sie haben mich verzaubert und süchtig gemacht. Nach einer Bergtour könnte immer sofort die nächste folgen.“ Warum das so ist? „Die meisten von uns“, wird berichtet, „leben in Städten umgeben von Beton, Asphalt und nur ein bisschen Grün dazwischen. Tagsüber schauen wir in unsere Laptops, zwischendrin auf unsere Handys und abends gehen wir schnell noch ins Fitnessstudio, um fit zu bleiben. Umso wichtiger ist es, die Natur immer wieder zu suchen. Sie erdet uns und gibt uns Kraft. Im Alltag kann uns schon ein Foto aus den Bergen zum Lächeln bringen. Allein der Gedanke an die mächtigen Berge und die kargen felsigen Gipfel kann uns kurzzeitig glücklich machen. Ein Urlaub in den Bergen reicht, um alle Energiereserven nachhaltig aufzutanken! Die Natur vermittelt uns Kraft und zeigt uns mit den Jahreszeiten und dem Wetter, wie wandelbar das Leben ist. Aus kleinen Dingen entsteht Großes. Auf Regen folgt Sonnenschein, auf einen schlechten Tag ein schöner. Die Natur fordert manchmal auch Demut, die Bereitschaft, eine Tour abzubrechen, wenn zum Beispiel ein Gewitter droht.“
Die Herausforderung, ganz im Hier und Jetzt zu leben
Was den besonderen Reiz der Natur der Berge ausmacht? Die, die es wie der Wetteraner Verwaltungsangestellte unmittelbar erlebt haben, brauchen nicht lange zu überlegen: „Es ist die unglaubliche Vielfältigkeit und Schönheit der Landschaft. Von saftig grünen Almwiesen über Nadelwälder bis hin zu schroffen, kargen Felsen kann man an einem Wandertag sehr viel Abwechslung erleben. Ich persönlich bin am glücklichsten, wenn ich wandern gehe. Im Wandertempo kann ich die Natur am intensivsten wahrnehmen und entdecken. Je höher ich einen Berg hinauf wandere, desto entspannter werde ich, und schalte immer mehr vom Alltag ab. Beim Wandern werde ich kreativ, mir fallen Ideen ein, für die mein Kopf im Alltagsstress keine Zeit hatte. Bei besonders schwierigen Stellen liebe ich es, dass ich komplett abschalten kann und mich ganz darauf konzentriere, wo ich als nächstes hintrete. Der Berg fordert einen immer wieder auf, ganz im Hier und Jetzt zu leben.“
Größtes Glücksgefühl, verbunden mit Stolz
Und was es mit der sportlichen Herausforderung auf sich hat? „Ich mag die Anstrengung eines extremen Anstiegs“, hört man laut Heinrich im Kreis der Kolleginnen und Kollegen, die auf dem Berg gewesen sind. Und weiter: „In diesen Momenten fordere ich mich, ich überwinde manchmal sogar meine Grenzen und Blockaden im Kopf. Aber ich gebe nicht auf, ende überglücklich auf dem Gipfel! Gerade, wenn es wahnsinnig anstrengend war, ist das Glücksgefühl am größten, verbunden mit ein wenig Stolz. Nach einem anstrengenden Aufstieg stehe ich auf einem hohen Gipfel und blicke von oben auf die Welt. Eine unendliche Weite breitet sich vor mir aus, tief unter mir die Täler mit ihren Bächen und um mich herum die vielen Bergspitzen. Das ist Gipfelglück, das ist pure Freiheit! Die Berge zeigen einem, wie klein man ist und gleichzeitig, dass man von oben immer eine andere Perspektive bekommt. Ob auf die Landschaft oder aufs Leben. Probleme nehmen eine andere Dimension an, wirken gleich kleiner. Die Berge strahlen Macht aus, sind gewaltig. Man muss sie und die Natur respektieren.“ Jemand zitiert Albert Einstein, 1879-1955, gebürtiger deutscher Physiker und Nobelpreisträger: „Wenn du ein glückliches Leben haben möchtest, dann knüpfe es an ein Ziel, nicht an Menschen oder Dinge.“
Nächste Tour auf die Azoren
Ob schon feststeht, wohin die nächste Tour geht, fragen wir unseren Bekannten: „Nachdem ich die letzten Jahre meine Urlaube immer in den Bergen verbrachte habe und die Sehnsucht nach dem Meer mich schon länger verfolgt, starte ich 2023 zu einem Wanderurlaub auf die Azoren, die portugiesische Inselgruppe mitten im Atlantik zwischen Europa und Nordamerika. Klar, dass Heinrich sich schon nach dem höchsten Punkt des Archipels erkundigt hat. Nach dem Ponta do Pico. Immerhin 2351 Meter. Der höchste Berg Portugals und des Mittelatlantischen Rückens und einer der höchsten Vulkane eines europäischen Staates.
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„Ruf der Berge: Im Himalaya (I) / Eine Annäherung“ Mehr „Leider auch gefährlich“: Im Himalaya (III) / Eine Nachbetrachtung“ Mehr Quellen: Erinnerungen und Tagebuchaufzeichnungen von Heinrich Reh, Beschreibungen von Bergkolleginnen und -kollegen sowie Internetseite https://www.fjella.world/warum-die-berge-gluecklich machen/.
KoCom/Fotos: Heinrich Reh/Privatarchiv
22. Januar 2023