Echter Norden
Deutschland ist schön: Mit Seat auf Sylt / Eine Inseltour nicht ohne Krabben, Pharisäer und Friesentorte
Von Günther Koch/Life-Magazin
Auf dem Weg von List zur Halbinsel Ellenbogen im Norden von Sylt. Foto: Koch
Westerland – Moin, Moin! Hallo, geht’s noch? Moin, Moin – am Abend? Es geht! Weil dieses Land und die Menschen, die hier oben ganz hoch im Norden leben, offenbar doch anders als die anderen sind: Nordfriesland und die Nordfriesen!
Ehe Dänemark beginnt
Die letzte Woche im April. Die spanische Volkswagen-Tochtermarke Seat stellt auf Sylt ihre Erdgasmodelle vor. Den Regen über Hamburg haben wir bei der Anreise mit dem Auto schon hinter uns gelassen. Wegen des Windes dürfen wir auf der Rader Hochbrücke bei Rendsburg über den Nord-Ostsee-Kanal nicht schneller als Tempo 60 fahren. Acht Kilometer sind es noch bis zur Grenze, weist ein Schild an der Autobahn A7 in Höhe von Hüllerup und Wedingfeld darauf hin, dass es mit Deutschland hier wohl langsam zu Ende geht, ehe Dänemark beginnt. Kurz vorher biegen wir Richtung Niebüll ab.
Oder per (Auto-)Huckepack
In dem Kreisstädtchen in Südtondern finden sich jetzt noch genügend Möglichkeiten zum Übernachten. Den Wagen kann man da stehen lassen und mit der Bahn über den Hindenburgdamm weiter nach Sylt fahren, um sich so vielleicht den teureren Huckepack-Transport mit dem Autozug zu sparen. Die Abfahrten folgen in relativ kurzen Abständen hintereinander. Die teils sogar nur eingleisige Strecke ist jedoch so ausgelastet, dass man mehr oder weniger fast immer mit Verspätungen rechnen muss. Wie viele Züge genau pro Tag fahren, weiß der Schaffner zwar nicht, aber: „Es sind in jedem Fall viele!“
Am Flughafen Westerland
Letzter Halt Westerland! Die ersten Ströme der zahlreichen Pendler und Tagesgäste vom Festland ebben nach und nach ab. Das Leben kommt allmählich in Gang. Hat Tief Ottilia an diesem Mittwoch zumindest am Morgen diesen Landstrich an der Küste noch im Griff, klart es zum Mittag hin über Sylt überraschend schnell immer mehr auf und die Sonne kommt raus. Am kleinen Flughafen von Westerland, zwei Kilometer außerhalb bei Tinnum, setzen erste Maschinen zur Landung an. Sie fliegen Sylt ab Mai bis Ende der Hauptferienzeit im Oktober wieder aus Berlin, Düsseldorf, Frankfurt/Main, Hamburg, Hannover, Köln/Bonn, Mannheim, München, Nürnberg, Stuttgart und Wilhelmshaven an, heben umgekehrt, in der Regel allerdings mit Umsteigen, zu Destinationen in rund 15 Länder ins europäische Ausland und laut Flugplan sogar nach New York ab.
Start in Keitum
In Keitum nicht weit von Westerland starten wir unsere Inseltour. Keitum selbst ist für seine Alleen und den alten Baumbestand bekannt. Gepflasterte Gassen verlaufen zwischen reetgedeckten Friesenhäusern mit schmucken Gärten davor. Am Rand des Watts – erst kommt das Watt, dann Sylt und dann das Meer – findet sich ein Hünengrab. Das Heimatmuseum im ehemaligen Kapitänshaus direkt am Kliff zeigt die von der Seefahrt geprägte Geschichte der Insel, in der einst vor allem der Walfang den Bewohnern zu Wohlstand verholfen hat. Auf dem Friedhof ruhen neben alten Sylter Familien ebenfalls bekannte Verleger, Politiker, Künstler und Schauspieler, abgesehen von den Flugzeuggeräuschen meist in Frieden. Am Ortsrand soll ein Rheingauer Weingut 2009 auf einem Hektar Deutschlands nördlichsten Weinberg zum Anbau von frühreifen Sorten wie Solaris und Rivaner angelegt haben, windgeschützt und begünstigt durch viele Sonnenstunden im Jahr, angeblich 1714. Zum Vergleich: Im Rheingau sollen es 1587 sein.
Danach Kampen und List
Etwas nördlich schließt sich Kampen an. „Irgendwo hier muss Deutschlands teuerste Wohnstraße liegen, bezogen zumindest auf Grundstücks- und auf Häuserwerte“, sagt ein Kollege, der sich auskennt auf Sylt. Kreative, Intellektuelle und Industrielle lassen grüßen, Bekannte aus Funk, Film und Fernsehen, die Springers und Kerners dieser Welt! Längst vorbei scheinen allerdings die Zeiten, als die Kampener Szene am Strand der Buhne 16 die Hüllen fallen ließ. Was es freilich noch gibt, sind der Leuchtturm und das Quermarkenfeuer am Roten Kliff. Bei der Kampener Vogelkoje handelt es sich um ein Naturschutzgebiet, in dem sich ungestört verschiedenste Wasservögel tummeln. Bis List, Deutschlands nördlichster Gemeinde, in der die Fähren von der dänischen Nachbarinsel Rømø an- und ablegen, ist es nur noch ein kleines Stück.
Auf der Halbinsel Ellenbogen
Die Lister müssen aufpassen, dass sie es mit dem Trubel nicht übertreiben, wenn sich vom Erlebniszentrum Naturgewalten nur einen Steinwurf weit entfernt mittlerweile sogar bereits ein Riesenrad dreht ... Im Gegensatz dazu viel angenehmer ist es, die Stille der Ellenbogener Dünen- und Heidewelt zu genießen, die man als 300 bis 1200 Meter breite und langgestreckte Halbinsel schon vom Lister Königshafen aus gut sehen kann. 40 Kilometer erstreckt sich der Sandstrand von hier wieder an Westerland vorbei hinunter bis nach Hörnum im Süden, wo man sich bewusst etwas abzusetzen scheint vom Jetset der vermeintlich Schönen und, weil sie es sich offenbar doch leisten können, dann auch Reichen im Norden. Auf dem südlichen Nehrungshaken schaltet Sylt ein, zwei Gänge zurück, müht sich, mehr vom natürlich-ruhigeren Charme der Insel zu bewahren, soweit es in Abhängigkeit vom Tourismus fast überall auf der Insel eben geht.
Nach Hörnum und Morsum
Dieser Wind! Kein Wunder, wenn die schon bedrohlich in rückwärtiger Schieflage befindliche Figurengruppe von Reisenden auf dem Bahnhofsvorplatz von Westerland versucht, giftgrün dieser auf Sylt offenbar allgegenwärtigen Naturgewalt zu trotzen. Die Bäume beugt, Flaggen an Seilen und Masten zerren und die Wasseroberfläche von Watt und Meer sich zu kleineren und größeren Wellenbewegungen anschwellen lässt. Im hoch auf einer Deichkuppe gelegenen Restaurant Breizh in Hörnum ist um diese Zeit spät am Nachmittag noch nicht allzu viel los. Der Blick da fast an der Südspitze schweift weit übers Meer, während im Teekontor in Keitum der letzte Kuchen serviert wird und Gäste sich im Café Ingwersen in Morsum zum Pharisäer schnell noch Friesentorte aus Mürbe-, Blätterteig und Pflaumenmus bestellen. „Aber bitte“, die gehört sowieso dazu, „mit Sahne!“ Auch das echter Norden!
An der steilen Kliffküste
Etwa zwei Kilometer erstreckt sich das Morsumer Kliff zwischen Hindenburgdamm und Morsum. Die Kliffküste sollte eigentlich abgetragen werden, um als Baumaterial für den Damm zu dienen. Doch die Sylter spielten da nicht mit, vereitelten das Vorhaben – und ein immerhin 43 Hektar großes Areal kam schon 1923 unter Schutz, wovon heute wohl auch das Landhaus Severin’s am Rand des Gebietes profitiert. Der Schutz ist streng, das Besteigen des Steilufers genauso untersagt wie das Sammeln von Fossilien. Von einem Parkplatz in der Nähe ist ein Fußweg ausgeschildert, über den man auch ans Wattenmeer gelangt. In der diesigen Abenddämmerung wird es immer schwerer, das langsam hinten verschwimmende Festland auf der anderen Seite noch deutlich zu erkennen. Irgendwo da muss auch Niebüll liegen. Wo ein großes Plakat rechter Hand kurz vor der Einfahrt in den Bahnhof unübersehbar mahnt: „Rettet die Fische, esst mehr Steaks!“ Diese Friesen!
Info Sylt I
Sylt, über den elf Kilometer langen Hindenburgdamm mit dem Festland verbunden, ist die größte nordfriesische Insel. Sie ist 38 Kilometer lang, misst an der schmalsten Stelle bloß 320 Meter, an der breitesten doch über zwölf Kilometer. Mit einer Fläche von rund 99 Quadratkilometern reiht sie sich deutschlandweit nach Rügen, Usedom und Fehmarn ein. Ihre Form ist charakteristisch, ihre Lage in der Nordsee allerdings auch so exponiert, dass es bei Sturmfluten immer wieder zu Landverlusten kommt. Nachbarinseln sind Amrum, Föhr, das kleinere Uthörn und das dänische Rømø. Höchste Erhebung mit über 50 Metern ist eine Düne bei Kampen, das neben Westerland und Wenningstedt zu den bedeutenderen Kurzentren auf der Insel gehört. In einigen Inselorten erinnert die Friesen-, Logierhaus und Bädervilllen-Architektur an frühere Zeiten. Auf Friesisch heißt Sylt Söl. Auch die Orte tragen Namen in dieser einheimischen Sprache, Kampen etwa Kaam, Kaitum Kairem, Morsum Muasem oder Westland Weesterlön. Das Seeklima mit durch den Wind sich nicht immer ganz so warm anfühlenden Sommern und etwas milderen Wintern als auf dem Festland ist vom Golfstrom beeinflusst.
Info Sylt II
Tourismus spielt eine wesentliche Rolle. Mit Kuren setzte er schon früh ein, spätestens seit Westerland 1855 Seebad geworden ist. Prominente und Wohlhabende haben im Lauf der Jahre die Insel für sich entdeckt. 2014 zählte Sylt 18 000 Einwohner, im Sommer aber kamen täglich 150 000 Besucher. Bei über 60 000 Gästebetten und 870 000 Gästen im Jahr sollen sich die Übernachtungen zuletzt auf über 6,5 Millionen summiert haben, was im Schnitt pro Gast 7,5 Übernachtungen entsprechen würde. Mehr oder weniger bekannte Namen, die sich mit Sylt verbinden, sind etwa der von Uwe Jens Lornsen, dem Freiheitskämpfer, von Theodor Storm, dem Dichter der durch seinen Tod unvollendet gebliebenen „Sylter Novelle“, von Dirk Meinerts Hahn, dem Westerländer Kapitän, nach dem sogar ein Auswandererdorf in Australien benannt sein soll, oder auch der von Reinhard Mey, dem Liedermacher, in dessen Texten sich gelegentlich Bezüge zu der Insel finden, zum Beispiel bei Rüm Hart. Friedrich Wilhelm Murnau hat 1920 bei Kampen einen Großteil der Außenaufnahmen zu seinem frühen Stummfilm „Der Gang in die Nacht“ gedreht, Roman Polanski 2009 in List und Munkmarsch die für seinen „Der Ghostwriter“.
Info Sylt III
Essen und Trinken auf Sylt reicht von Fischbude bis Sternenküche. Spezialitäten sind Friesenkeks, Friesentorte, Grünkohl, Krabben, Matjes, Muscheln, Rote Grütze und Sylter Royal genannte Austern. Bei den Getränken spannt sich der Bogen neben dem Tee vom heißen Rotwein-„Eisbrecher“ mit Rum über den Pharisäer-Kaffee mit Rum und Sahne, den Glühwein Sylter Welle und den Teepunsch mit Kümmelkorn bis zur „Toten Tante“, dem heißen Kakao mit Rum und Sahne. Wir waren in Keitum im Severin’s Resort & Spa (fünf Sterne, 63 Zimmer/24 Appartements, friesischer Stil, www.severins-sylt.de) untergebracht. Im Restaurant „Brot & Bier“ (www.brot-und-bier.de) ebenfalls in Keitum können wir das (nicht ganz billige) Krabbenbrot, in Hörnum im Breizh (www.hapimag.com) Austern und Bouillabaisse, im Keitumer Kontorhaus (www.kontorhauskeitum.de) Tee und Kuchen und in Morsum im Café Ingwersen (www.ingwersen-sylt.de) friesischen Pharisäer aus gesüßtem Kaffee und braunem Rum mit Schlagsahne zusammen mit Friesentorte empfehlen. Das Landhaus Severin’s (www.landhaus-severins.de) am Morsumer Kliff bietet gehobene Küche. Zur Vorübernachtung in Niebüll haben wir uns im Niebüller Hof (drei Sterne, 162 Zimmer, zentral gelegen, privat geführt, www.niebueller-hof.de) einquartiert.
Service Auto
Von Hamburg nach Niebüll, wo man in den (Auto-)Zug umsteigen und sich über den Hindenburgdamm per Bahn nach Westland auf Sylt befördern lassen kann, sind es an Itzehoe, Heide und Husum vorbei noch fast 190 Kilometer. Wer über die A7 an Bad Bramstedt, Neumünster, Rendsburg und Schleswig vorbei anreisen will, muss mit etwas mehr rechnen. Auf der Insel selbst, nicht einmal 40 Kilometer lang, maximal gut zwölf Kilometer breit, sind die Entfernungen überschaubar. Das Straßennetz ist ganz gut ausgebaut. In Strandnähe gibt es Parkplätze, die zum Teil aber kostenpflichtig sind. Es fahren Linien- und Charterbusse. Das Radwegenetz umfasst 250 Kilometer. Zwischen der dänischen Nachbarinsel Rømø und List im Norden sind Personen- und Autofähren unterwegs. Weitere Häfen gibt es in Hörnum, Munkmarsch und Rantum. Über den Flughafen Westerland verkehren Linien- und Charterflüge. Die Reise auf Sylt fand in den Erdgasvarianten der vier 68, 90 und 110 PS starken Seat Mii, Ibiza und Leon/Leon ST statt, die ab 12 795 bis 24 560 Euro bei den Händlern stehen. Auch der kleine Arona-SUV ist zum Jahresende als Erdgasversion vorgesehen.
KoCom/Fotos: Günther Koch
3. Juni 2018