Ruhe vor dem Sturm
Am etwas anderen Nationalfeiertag rund um den Steffl in der österreichischen Hauptstadt Wien
Von Günther Koch/Life-Magazin
Einst Residenz der Habsburger, jetzt Sitz des Staatsoberhaupts: Wiener Hofburg. Foto: Koch
Wien – Die Ruhe an diesem für uns eigentlich ganz normalen Donnerstag wirkt fast gespenstisch! Sie ist uns schon die ganze Zeit aufgefallen. Auf den Autobahnen und Landstraßen sind kaum Autos unterwegs, in den Burgenland- und Niederösterreich-Dörfern, durch die wir nach Ankunft auf dem Flughafen Schwechat fahren, um einmal auf einem anderen Weg in die Hauptstadt nach Wien zu gelangen, kaum Menschen zu sehen. Alle Geschäfte sind geschlossen. Seltsam!
Ein Teil der Ringstraße dann gesperrt
Erst der junge Mann am Empfang des Wiener Kempinski-Hotels Palast Hansen klärt uns auf: „Heute ist Nationalfeiertag!“ In jedem Jahr am 26. Oktober feiern die Österreicher sich selbst, ihre Republik – und dass 1955 an diesem Tag ihre Neutralität in Kraft getreten ist, nachdem die letzten Besatzungsmächte gerade das Land verlassen haben. „Wenn Sie nachher noch in die Stadt wollen, denken Sie bitte daran“, sagt der Kempinski-Rezeptionist, „dass ein Teil der Ringstraße dann gesperrt ist.“
Bis zu den Tuchlauben und dann die Brandstätte entlang
In Jois am Neusiedlersee ist das Wetter noch schön, in Oberwaltersdorf beim Zwischenstopp im Golfclub Fontana, in Heiligenkreuz im Wienerwald und in der Thermen- und Casinostadt Baden zumindest trocken gewesen. In Wien haben sich die Wolken an diesem Nachmittag längst bedrohlich zusammengezogen. Es könnte Regen geben. Doch den Schirm nehmen wir nur sicherheitshalber mit. Am Schottenring nahe der Donau rumpelt in der Mitte der Straße gerade eine ältere Tram vorbei. Die neuen, schon stromlinienförmiger gebauten, gleiten viel lautloser über die Schienen. Vor dem Hotel im 1. Bezirk erläutert ein Angestellter im Dienstlivree, wie wir zu Fuß am besten ins Zentrum kommen: „Einfach diese Richtung, dritte Straße links bis zu den Tuchlauben und weiter die Brandstätte entlang, dann sind Sie am Stephansdom!“
Erinnerung an die Herrschaft der Nationalsozialisten
In der Wipplingerstraße gehen wir an der Börse vorbei. Dahinter erstreckt sich der Hermann-Gmeiner-Park, benannt nach dem Gründer der SOS-Kinderdörfer, einem gebürtigen Österreicher. Vorher war die Anlage noch der Berserlpark gewesen. Auf dem Pflaster verläuft eine markante Schriftzeile von außen nach innen durch den Park, in dem Kinder spielen. Sie weist auf die Herrschaft der Nationalsozialisten auch in Wien und die Folgen insbesondere für die jüdische Bevölkerung hin. Klar, es dauert nicht lange und wir haben uns verlaufen, finden uns plötzlich auf dem Judenplatz wieder. Ein Mahnmal erinnert hier an Österreichs Opfer des Völkermords der Nazis an den Juden in Europa. Auch Gotthold Ephraim Lessing schaut von seinem Sockel herunter. Der deutsche Dichter, der laut Literaturexperten mit seiner „Ringparabel“ im Drama „Nathan der Weise“ den „Schlüsseltext der Aufklärung“ und die „pointierte Formulierung der Toleranzidee“ geliefert hat, ist 1775/1776 in Wien gewesen. Selbst Joseph II., zuletzt sogar Kaiser des Heiligen Römischen Reichs, soll ihn damals zur Audienz empfangen haben.
Am Vermählungsbrunnen und unter der Ankeruhr
Ein Fiaker mit asiatischen Touristen kommt uns am Hohen Markt entgegen, auf dem der Vermählungsbrunnen über 18 Meter in die Höhe ragt, während in der Ecke hinten die im Jugendstil gehaltene Ankeruhr den sich seitlich anschließenden Bauernmarkt überspannt. Statt zum Sacher oder Hawelka zieht es uns diesmal zum Demel, der 1786 gegründeten Konditorei, die noch immer den Titel „k.u.k. Hofzuckerbäckerei“ führen darf. Das Kaffeehaus am Kohlmarkt ist nicht mehr weit. „Hier gleich um die Ecke“, sagt ein Polizist neben seinem Streifenwagen inmitten ganzer Heerscharen von Passanten, die am Nationalfeiertag nach den offiziellen Feierlichkeiten noch durch die Innenstadt bummeln. Der Demel-Eingangsbereich ist noch original erhalten, der Verkaufsbereich als schöner Rokoko-Salon gestaltet. Die übrigen Räume samt Schaukonditorei verteilen sich über zwei Etagen. „Am ersten kalten Tag im Jahr musste jede schicke Dame, die etwas auf sich hielt, beim Demel vorbeikommen und eine heiße Schokolade trinken“, schreibt der gebürtige Wiener Schriftsteller Friedrich Torberg in seiner Anekdotensammlung „Die Tante Jolesch“ und hält fest:
Mischung aus Majestätsplural und kühler Distanz
Der Demel sei schon immer beliebter Treffpunkt der Aristokratie und des Bürgertums gewesen. Wie vor 200 Jahren würden Gäste noch heute in der dritten Person angesprochen und nach ihren Wünschen befragt. Das stets weibliche Personal trage schlichtes Schwarz mit ein wenig Weiß. Die kultivierte Unpersönlichkeit der Demelinerinnen, eine nur hier erhältliche Mischung aus Majestätsplural und kühler Distanz, hergestellt durch den Fortfall des Titels, sei ein Demel-Markenzeichen. „Man fühlt sich in der dritten Person umsorgt aber nicht bedrängt. Man weiß sich in sachlicher Hut, ohne ihre Gewährung als Gnade empfinden zu müssen.“ Auch wenn sich heute offenbar noch größere Schlangen vor den Salons im Demel nahe der Hofburg und der Spanischen Hofreitschule mit den zahlreichen Fiakern davor bilden: Wenigstens eine heiße Schokolade und eine Vanilleschnitte müssen sein, nicht nur wegen des Nationalfeiertags!
Am Heldenplatz ein bisserl gedrängt, ein bisserl provisorisch
Der treibt es offenbar zuvor schon auf die Spitze. Für Conrad Seidl vom Wiener Standard jedenfalls wirkt das Geschehen auf dem Heldenplatz „ein bisserl gedrängt, ein bisserl provisorisch“. Auf einem großen Teil des Platzes geht gar nichts, weil da vorübergehend das Quartier des Parlaments entsteht, ist am nächsten Morgen in der Zeitung zu lesen. Auf dem Rest wird improvisiert. Die Heerschau findet statt. Nur bei der Rekruten-„Angelobung“ steht diesmal statt des Staatsoberhaupts, das es bekanntlich noch immer nicht gibt, die Nationalratspräsidentin in der Pflicht. Die Feiern laufen anders ab. Trotzdem sind über eine Million Zuschauer da. Rekord! Etwas verlassen steht derweil der Stephansdom da. Die Anfänge des liebevoll Steffl genannten Wiener Wahrzeichens gehen auf das Jahr 1137 zurück. Das gotische Bauwerk, 107 Meter lang, 34 Meter breit, verfügt über vier Türme, der höchste mit über 136 Metern. 11 von 13 Glocken bilden das Hauptgeläut, das gerade beginnt. „Wow, jetzt geht’s aber mächtig los“, sagt ein Wiener, mit dem wir vor dem Portal ins Gespräch gekommen sind. Auch über die, wie es amtlich heißt, „verschobene Wahlwiederholung der Stichwahl zur Wahl des Bundespräsidenten“.
Das mit dem gar nicht so klebrigen Briefkuvert-Kleber
Über die Sache mit dem auf den Briefwahlkuverts zuletzt gar nicht so klebrigen Kleber kann unser Gegenüber, der seinen Namen lieber nicht genannt haben will, „im Grunde nur lachen“. Er scherzt: „Ich hab‘ sogar gehört, dass er aus Deutschland gekommen ist …“ Die erneute Wahl soll nun am 4. Dezember gelingen. Der Grüne Alexander Van der Bellen oder Norbert Hofer von der FPÖ? „Egal, wer es wird“, glaubt der Wiener, „mit der Ruhe ist es dann sowieso vorbei, so oder so.“ In Wien, in den Niederösterreich- und Burgenland-Dörfern und in allen anderen Orten im Land.
Info Wien I
Österreichs Hauptstadt erstreckt sich östlich der Alpen am Übergang zur Pannonischen Tiefebene ins Flachland der Donau. Der Wienerwald reicht teilweise bis ins Stadtgebiet mit seinen rund 1,8 Millionen Einwohnern. Die Rolle als kaiserliche Residenz hat Wien früh zu einem kulturellen und politischen Zentrum Europas gemacht. In Zeiten des Kalten Krieges galt Wien wie Berlin zudem als Hochburg der Agenten. Neben der Ringstraße prägen vor allem Gründerzeit-, Barock- und Jugendstilbauwerke die Innenstadt. Das Zentrum und Schloss Schönbrunn sind Weltkulturerbe. Wien zählte 2015 über sechs Millionen Gästeankünfte mit mehr als 14 Millionen Übernachtungen. Die meisten Touristen sind Deutsche. Klimatisch geht es eher kontinental-gemäßigt zu. Die Sommer sind in der Regel nicht zu heiß, die Winter mild. Wir waren diesmal im Kempinski-Hotel Palast Hansen (Fünf-Sterne-Superior-Haus, 152 Zimmer/Suiten, stilvoll-luxuriöse Einrichtung, zentrumsnah in der Innenstadt im 1. Bezirk, www.kempinski.com/wien) untergebracht.
Info Wien II
Die (nicht nur aus Wiener Schnitzel bestehende) Wiener Küche ist von Einflüssen aus Ländern und Regionen der k.u.k. Monarchie geprägt. Insbesondere Gerichte aus dem nahen Ungarn und Böhmen wie Gulasch oder Mehlspeisen vom Strudel über Golatschen-Rundkuchen mit Mohn-, Quark- oder Pflaumenmusfüllung bis hin zum Palatschinken finden sich auf den Karten. Wiener Kaffeehäuser und die Heurigenlokale in Weinbaugebieten wie Grinzing, Neustift, Nuss-, Stammers- und Strebersdorf haben Tradition. Was das Essen und Trinken betrifft, können wir das mit einem Michelin-Stern ausgezeichnete „Edvard“ im Kempinski empfehlen, für Ausflüge nach Niederösterreich und ins Burgenland in Oberwaltersdorf den Fontana-Golfclub (www.fontana.at), am Neusiedlersee das Weingut Hillinger in Jois (www.leo-hillinger.com). Information: Tourist-Info Wien, Albertinaplatz, A-1010 Wien/Österreich, Telefon 0043-(0)-124555, www.wien.info).
Service Auto
Wenn Sie mit dem eigenen Wagen anreisen wollen: Von München sind es knapp über 400 Kilometer bis nach Wien, von Passau aus, wenn Sie aus nördlicheren Landesteilen kommen, über Linz, an Sankt Florian, Sankt Valentin, Melk und Sankt Pölten vorbei noch gut 260. In Orten ist für Pkw 50, auf Freiland- und Schnellstraßen 100, auf Autobahnen, auf denen Vignetten-Pflicht herrscht, Tempo 130 erlaubt. Die Promillegrenze liegt bei 0,5. Vom südöstlich gelegenen Flughafen Schwechat sind es rund 15 Kilometer bis ins Zentrum. Wien ist ebenfalls Bahnknotenpunkt.
KoCom/Fotos: Günther Koch
27. Oktober 2016