Im Reich des Riesen
Ein phantasievoller Kosmos der Entdeckungen wartet in den Kristallwelten von Wattens in Tirol
Von Günther Koch/Life-Magazin
Wunder der Harmonie: Sopranistin Jessye Norman im Kristalldom. Foto: Koch
Wattens - Vom Tegernsee ist es nicht weit hinüber nach Tirol. Mit dem Auto durch landschaftlich schöne Seitentäler noch nicht einmal eine Stunde. Und schon öffnet sich in Wattens das Reich des Riesen.
Es geht ums Staunen und Verzaubern
„In ihm“, steht in unserem Führer, „ist die Phantasie zu Hause.“ Es geht ums Staunen und Verzaubern. Um Anregungen für die Sinne, „weil sich“, so die Folgerung daraus, „unmittelbar vor ihren Augen Illusionen entfalten“. In Wunderkammern, 1995 von André Heller entworfen. Der Multimedia-Künstler hatte nämlich, so heißt es, eine Vision, und zwar Kristall als Materie grenzenloser Möglichkeiten mit Kunst in ihrer Vielseitigkeit als schöpferischer Kraft zu verbinden in einem Kosmos der Entdeckungen.
Wo es Wunder über Wunder gibt
Sehen. Hören. Fühlen. Genießen. Und das alles an einem Ort, den man in der Tat nie zweimal auf dieselbe Art erlebt. Und wo es Wunder über Wunder gibt. Wunder der Kunst, der Technik, der Facetten, der Farben, des Lichts, der Fantasie, des Ausdrucks, der Illusion, der Variation, der Harmonie, der Wellen, der Unendlichkeit, der Welt, der Elemente.
Der größte je geschliffene Kristall
Willkommen in den Swarowski-Kristallwelten! Die unterirdisch gleich hinter dem Eingang in einer tiefblauen Schatzkammer ihren mysteriösen Anfang nehmen. „Unsterbliche Künstler wie Salvador Dali“, erfahren wir, „haben Werke mit Kristall geschaffen, die einen magischen Zirkel um das Herzstück bilden.“ Gemeint damit ist der Centenar, laut Swarovski mit 310 000 Karat der größte Kristall, der je geschliffen worden ist. Weiter geht's an einer elf Meter hohen und über 40 Meter langen Kristallwand hinein in ein funkelndes Reich voller Geheimnisse und Magie, zu dem etwa auch das majestätische, von Meeresquallen inspirierte „Mediterraneo“-Exponat gehört.
Vom mechanischen Theater zum Kristalloskop
Wir wechseln ins mechanische Theater zu einem fast fremdartigen Spiel mit Gegensätzen. Eine skurrile Fashionshow - die Technik für die hochpräzisen Bewegungen stammt von Feinmechanikern aus den Werkstätten des Unternehmens - kreist dort um eine Allegorie auf die Beziehung zwischen Mann und Frau. „Und es stellt sich die Frage“, so lesen wir: „Wie mechanisch ist das Leben tatsächlich?“ Es scheint, als würden wir anschließend im Kristalldom das Innere eines riesigen Kristalls betreten. Über uns, unter uns, rechts und links brechen sich Licht, Reflexionen und Akustik in 595 Spiegeln. „Immer wieder“, so beschreibt es der „Kristallwelten“-Führer, „ist der Raum in eine andere Farbe getaucht - und nur allmählich, beinahe widerwillig, gibt er den Blick auf verborgene Kunstwerke frei.“ Im Kristalloskop wirkt ein Kristall mit 444 Facetten wie ein nach unten offener Raum.
Wenn die Sonne mit dem Mond auf dem Eis tanzt
Im wie Eis kühl und geheimnisvoll glitzernden „Silent Light“ nimmt Kristall die urtümliche Form von schroffen Eiszapfen an, weckt beim Betrachter stille Erinnerungen an eine klirrend kalte, mondhelle Winternacht. Eine Station weiter im Kristalltheater tanzen Sonne und Mond in Schlittschuhen auf angedeutetem Eis. Um dynamisch-rhythmische Schwünge geht es in der Kristall-Kalligraphie, Motto „Wenn das Wort an seine Grenzen stößt, werden diese von der Poesie des Lichts überwunden“. Nach der Eisgasse, in der jeder Schritt eine Spur von Kristallen zieht, öffnet sich seit November eine Weltwunderkammer, in der moderne Legenden und Architektur wie das Empire State Buildung funkelnd und mit kristallklarem Sinn in Szene gesetzt sind.
Denkwürdige Vorstellung im Kristalldom
Der freundliche Riese selbst - oder besser: die Fabel von ihm - begegnet uns plötzlich mit Wanderstab, Ring, Handschuhen und Ziehharmonika, ehe der Auftritt der Primadonna Assoluta folgt in einer denkwürdigen Vorstellung, wenn die weltberühmte Sopranistin Jessye Norman im Kristalldom die Schlussarie aus „Dido und Aeneas“ von Henry Purcell singt. Unser Begleiter jedenfalls ist entzückt, spricht von Virtuosität und Emotionalität der Stimme, aufgefangen und getragen von einem gewaltigen, natürlichen Bergkristall aus Madagaskar. „Beide verschmelzen zu einer Einheit aus Erhabenheit und Energie“, so das Lob.
Von Meeresgott Poseidon zum Zauberwald
In der azurblauen Welt des Meeresgottes Poseidon lassen sich zwischen schillernden, avantgardistischen Wellen und Lamellen glitzernde Meeresfiguren ausmachen, begleitet von subtilen Klängen und unwirklichen Lichtströmen. Der Weg führt über „55 Millionen Kristalle“, die in Form eines hypnotischen Erlebnisses aus Musik und Farben für die Wandlungsfähigkeit von Kristall als Material stehen, zu einer Spirale aus 48 Vielecken, auf denen sich Bildfragmente finden wie Gedankenfetzen, Grafiken, Illustrationen und Animationen, die die weltgeschichtliche Bedeutung des Kristalls, seinen Einfluss auf die Gesellschaft, seine Rolle in Natur, Wissenschaft und Religion erläutern. Natürliche Baumstämme umschließen zuletzt hölzern eine Videoinstallation, auf der ein fesselndes Spiel der Elemente ausgetragen wird, in dem Feuer, Wasser und Kristall um die Wette funkeln, prasseln und lodern. Wir treffen dort auch auf den rätselhaften Zauberwald-Bewohner, die Staatsquelle „Leviathan“. Sie verabschiedet uns aus den Wunderkammern. Mit mystischem Leuchten.
Info Wattens
Wattens ist eine rund 7600 Einwohner zählende Marktgemeinde im unteren Tal der Inn. Fundstücke lassen eine frühe Besiedlung bis in vorrömische Zeit hinein vermuten. Urkundlich ist Wattens im Jahr 930 das erste Mal erwähnt. Die 1559 errichtete Papiermühle des Ortes gilt als älteste im Norden Tirols. Die ehemalige Bauerngemeinde entwickelte sich nicht zuletzt durch die Ansiedlung der Glas- und Kristallschleiferei Swarovski, die – gegründet vom aus Böhmen stammenden Daniel Swarovski – hier ihren Stammsitz hat und mittlerweile weltweit tätig ist. Neben den zum 100-jährigen Bestehen des Unternehmens in einem künstlichen Hügel am Ostende des Ortes errichteten „Kristallwelten“ sehenswert sind das Museum für Industrie- und Vorgeschichte sowie das Freilicht- und Schreibmaschinenmuseum. Information: Tourismusverband Region Hall-Wattens, Wallpachgasse 5, A-6060 Hall/Tirol, Telefon 0043-(0)-5223-455440, www.regionhall.at.
Service Auto
Von München aus nach Wattens sind es mit dem Auto zunächst über die Auztobahn A8 bis Rosenheim und anschließend weiter über die A12 über Kufstein und Wörgl rund 150 Kilometer. Wattens liegt etwa zehn Kilometer östlich von Innsbruck direkt an der Inntal-Autobahn und verfügt im Nachbarort Fritzens auch über einen Bahnhof. Der nächste Flughafen ist Innsbruck. In Österreich ist in Orten 50, auf Landstraßen 100 und auf Autobahnen (Vignettenpflicht!) Tempo 130 erlaubt. Die Promillegrenze liegt bei 0,5.
KoCom/Fotos: Günther Koch
3. März 2017